Steve Sem-Sandberg „W“

Steve Sem-Sandberg ist ein preisgekrönter schwedischer Autor, der auch als Juror für die Auswahl der Nobelpreisträger tätig ist. In seinen Werken spielt das Motiv der aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen eine bedeutende Rolle.

„W“ steht für die historische Figur von Johann Christian Woyzeck, der 1824 wegen des Mordes an seiner ehemaligen Geliebten hingerichtet wurde. Er ist auch die Titelfigur von Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ und Alban Bergs Oper „Wozzeck“. Um die Zurechnungsfähigkeit dieses Woyzecks, der an periodischen Wahnattacken litt, ist nach seiner Hinrichtung heftig gestritten worden. Steve Sem-Sandberg rollt diesen Fall wieder auf und vermischt Fiktion und Fakten sehr geschickt, indem er das gerichtliche Gutachten aus dieser Zeit, das zur Hinrichtung Woyzecks geführt hat, in den Roman einbaut.

Das Werk erzählt die triste Lebensgeschichte Woyzecks, der früh seine Eltern verliert, gedemütigt und verlacht wird, in keinem Beruf Fuß fassen kann und oft der Verachtung seiner Umwelt ausgesetzt ist. In Johanna, sein späteres Opfer, verliebt er sich schon sehr früh, aber ihre Beziehung ist – so wie alle anderen Beziehungen Woyzecks – eine einseitige. Woyzeck wird von Frauen kurzzeitig benutzt, aber nicht wirklich ernst genommen, er ist zu erfolglos, zu arm, zu jämmerlich, und so wenden sie sich schon bald vielversprechenderen Partnern zu.

Woyzeck lässt sich zur Armee verpflichten und nimmt an Napoleons Russlandfeldzug teil, wo er unaussprechliche Gräueltaten erlebt und Entbehrungen ertragen muss.

Schließlich trifft er in Leipzig wieder auf Johanna, seine erste Liebe, die ihn nach einigen Gunstbeweisen schließlich für einen anderen Mann fallen lässt. Woyzeck gibt bei seiner Vernehmung zu Protokoll, dass ihm Stimmen befohlen hätten, Johanna zu erstechen, gleichzeitig aber ist er untröstlich über ihren Verlust.

Diese Schilderung von Woyzecks Leben wird durch die Befragungen des Gerichtsarztes eingeleitet und unterbrochen, sie endet mit Woyzecks Hinrichtung.

Steve Sem-Sandberg versteht es geschickt, Fiktion und Dokumentation zu verbinden. Aus seiner Schilderung von Woyzecks Leben geht hervor, dass dieser kaum je eine Chance hatte – ohne Ausbildung, festen Wohnsitz, Familie, fixes Einkommen. Woyzeck ist der Inbegriff des Chancenlosen, der von denen, die in der Gesellschaft etabliert sind, untersucht, bewertet und verurteilt wird. Hilfe lässt ihm kaum jemand zuteilwerden. So scheint es auch folgerichtig, dass nur der Anfangsbuchstabe seines Namens als Buchtitel gewählt wurde.

Ein beunruhigendes, nicht leicht zu verkraftendes Buch, aber dennoch sehr lesenswert.

Prof. Münzer-Jordan

Zurück