Elif Shafak "Unerhörte Stimmen"

Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak schreibt in türkischer und englischer Sprache, lebt in London und ihr Roman „Unerhörte Stimmen“ stand 2019 auf der Shortlist des Booker Prize. Da sie entschieden für die Gleichberechtigung der Frauen eintritt, ist sie schon mit der türkischen Justiz in Kontakt gekommen.

„Unerhörte Stimmen“ heißt im englischen Original „Ten Minutes, thirty-eight Seconds in this Strange World“, das ist die Zeitspanne, in der das Gehirn eines bereits Verstorbenen noch aktiv ist. Die Prostituierte Leila, von ihren Freunden „Tequila Leila“ genannt, ist ermordet worden und in der ihr noch verbleibenden Zeit erinnert sie sich an ihre Kindheit, ihre Flucht nach Istanbul, ihr Leben als Prostituierte, ihre große Liebe und ihre Freunde.

Die Geschichte Leilas ist mitreißend erzählt, Puzzlestein fügt sich an Puzzlestein, bis ein buntes, bisweilen tragisches, aber auch lebensfrohes und kämpferisches Bild einer Gemeinschaft von Freunden entsteht, die am Rande der türkischen Gesellschaft leben.

Leilas Freunde haben alle einen gesellschaftlichen Makel, sie sind geächtet, aber sie verbindet noch mehr als das: Diese Gruppe ist bedingungslos bereit, füreinander einzustehen,  und sie lieben ihr Istanbul, diese alte, geheimnisvolle Stadt. Außerdem stehen sie zu sich selbst, sie sind nicht bereit, sich zu verstellen, um sich alten, verknöcherten Strukturen anpassen zu können.

Dieser Gemeinschaft ist der zweite Teil des Romans gewidmet. Als Leila auf dem Friedhof der Geächteten bestattet wird, einem Friedhof für Menschen, die von ihren Familien verstoßen wurden und deren Grab nur eine Nummer aufweist, beschließen sie, ihr ein würdiges Begräbnis zu verschaffen. Schließlich sind und waren sie Leilas Familie.

Wie dieses Unterfangen endet, wird hier nicht verraten.

„Unerhörte Stimmen“ ist ein sehr gut lesbares, spannendes und berührendes Buch, dessen Autorin nicht nur „Unerhörtes“ im Sinne von „Schockierendes, nicht Gesellschaftskonformes“ zu Papier bringt. Elif Shafak verleiht Randgruppen in diesem Roman Stimmen, die vom Leser gehört werden.

Ungewöhnlich und faszinierend!

Prof. Münzer-Jordan

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