Anne Weber "Annette, ein Heldinnenepos"

„Annette, ein Heldinnenepos“ heißt das Buch von Anne Weber über die ungewöhnliche, aber reale Lebensgeschichte der Französin Anne Beaumanoir, das 2020 den Deutschen Buchpreis erhielt.

Die Autorin hat die über 90-jährige Annette vor einigen Jahren zufällig kennengelernt und sich – wie sie selbst sagt – „vom Liebesblitz getroffen gefühlt“. Später entschließt sie sich, die Lebensgeschichte dieser außergewöhnlichen Frau niederzuschreiben.

Annette ist in der Bretagne geboren, sie stammt aus einfachen Verhältnissen und ihr ist ein untrüglicher Gerechtigkeitssinn zu eigen. Im besetzten Frankreich des Zweiten Weltkriegs schließt sie sich der Resistance an und riskiert ihr eigenes Leben, um das von jüdischen Franzosen zu retten; dabei helfen ihr auch ihre Eltern. Sie lernt Roland kennen und lieben, und während sie jüdische Kinder in Sicherheit bringt, lässt sie selbst eine Abtreibung vornehmen, da sie durch ihr Engagement im Widerstand keinen Platz für ein eigenes Kind sieht. Sie setzt sich großen Gefahren aus und verliert Roland, der auf der Flucht umkommt.

Sie selbst ist nach Kriegsende daran beteiligt, Mitläufer ihrer gerechten Strafe zuzuführen, was ihr teilweise sehr schwerfällt. Nach einem kurzen Engagement in der Kommunistischen Partei und einer ebenso kurzen Ehe lernt Annette ihren zweiten Mann aus gutbürgerlichem Haus kennen. Sie praktiziert als Ärztin und bekommt zwei Söhne.

Während eines Urlaubs in Algerien erkennt sie die Anzeichen der drohenden Auseinandersetzung zwischen Frankreich und seiner Kolonie und gerät, wieder von ihrem Gerechtigkeitssinn geleitet, in diesen Konflikt. Annette unterstützt die algerische Unabhängigkeitsbewegung in Frankreich, wird aber verraten und zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Ihr gelingt die Flucht nach Tunis, später lebt sie in Algerien, wo sie miterleben muss, dass die Unabhängigkeit des Landes zu keiner Verbesserung für die Bevölkerung geführt hat; nur die Machthaber sind andere. Durch einen Machtwechsel muss sie das Land verlassen und arbeitet bis zu ihrer offiziellen Begnadigung in Genf, von wo aus sie mit falschen Papieren riskante Reisen in ihre Heimat unternimmt, um ihre Mutter und ihre Kinder zu sehen.

Als Anne Weber die hochbetagte Annette kennenlernt, ist sie noch immer erfüllt von ihrem Glauben an Gerechtigkeit und nicht bereit aufzugeben.

Anne Webers Buch ist ungewöhnlich und faszinierend. Sie schreibt in gebundener Sprache und setzt großen Heldenepen der Vergangenheit ein Heldinnenepos entgegen, das sich von seinen Vorgängern auch darin unterscheidet, dass es losgelöst von religiösen Vorstellungen einem praktischen Gerechtigkeitsgedanken folgt.

Annette wird häufig mit Sisyphos verglichen, kaum nähert sie sich einem Gipfel, entdeckt sie „neue Baustellen“, deren Grundsteine neu postioniert werden müssen; dennoch verlässt sie nie der Mut.

Anette überlegt die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht, sie tut, was getan werden muss, auch wenn sie sehr darunter leidet, dass sie dadurch fern von ihren Kindern ist.

Ein nachdenklich stimmendes Buch über die Unvereinbarkeit von öffentlichem Engagement in Krisenzeiten und privatem Glück. Ein Buch, das auch durch seine ungewöhnliche Form besticht.

Sehr lesenswert!!

Prof. Münzer-Jordan

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